"Was wir umbringen" (4)

Wenn ich zu entscheiden hätte, welches literarische Abbild des großen Unheils als dasjenige gelten soll, das den Überlebenden und Nachlebenden den stärksten Eindruck von dem Leid der Menschheit und von der Sünde an ihr vermittelt, so würde ich, der es in einem Werk von achthundert Seiten versucht hat, für die kleine Skizze entscheiden, die in der 'Arbeiter-Zeitung' vom 17. Oktober 1923 erschienen ist, die als ein Tatsachenbericht, in dem um kein Wort zu viel enthalten ist und jedes die Fülle des Leides enthält, die wahre Erzählung einer wahren Begebenheit wiedergibt und in der tragischen Verbindung zwischen einem Zuruf und einer Gestalt, die nur noch Tränen hat, doch keine Arme, ihm zu gewähren, die höchste Plastik der Empfindung erreicht. Es ist die einzige Szene, die in den »Letzten Tagen der Menschheit« fehlt, und ihre stärkste. Daß diese Skizze noch nicht in die Lesebücher eingegangen ist, mag jene beschämen, deren Sorge es sein muß, das Bewußtsein der Jugend mit der Vorstellung dessen zu erfüllen, was ein falsches Ideal aus ihr machen könnte. Ich würde entscheiden, daß dem Mann, der die im Eisenbahnzug gehörte Erzählung, sachlich wie sie gesprochen war, aufgeschrieben hat und der kein Literat, sondern ein Fabriksarbeiter ist, der Friedens-Nobelpreis gebührt.

Vater, nimm mich!

Der Personenzug kroch müde dahin durch die sonnige Landschaft. In den Ecksitz gelehnt sah ich zum Fenster hinaus auf die Felder, Wiesen und Gehöfte, die an uns vorüberglitten, und hörte nur mit halbem Ohr auf die Unterhaltung der zwei Frauen, die mir gegenüber saßen und einander von häuslichen Sorgen erzählten: von der Teuerung der Lebensmittel, dem Lebensmittelwucher, von den Kunstgriffen, durch die sie aus alten Kleidern und Wäschestücken, die schon fast unbrauchbar geworden waren, immer wieder dies oder jenes Stück herzustellen wußten, weil es ihnen bei den hohen Preisen nicht möglich war, von dem Verdienst des Mannes so viel zu erübrigen, um neue Sachen kaufen zu können. Es war die ständige, leider allzu berechtigte Klage aller Frauen aus dem arbeitenden Volke. Sie drang nur bruchstückweise aus dem Lärm der Unterhaltung der Mitreisenden an mein Ohr, die den Waggon mit einem schier unlösbaren Stimmengewirr erfüllte.
Plötzlich läßt der Lärm ein wenig nach und die wimmernden Töne eines kleinen Musikwerkels werden vernehmbar, das ein einarmiger Invalide an einem Riemen um den Hals trägt. Mit der anderen Hand, die ihm noch geblieben ist, tastet er sich durch den Waggon, durch die Fahrgäste, indessen sein Werkel wimmernd die Melodie des Liedes »Freut euch des Lebens« leiert. Aus dem Gesicht des Invaliden starren zwei ausdruckslose Augen ... Blind! Ein Kriegsblinder!
Der Invalide hat sich schon längst in den nächsten Waggon hinübergetastet. Aber die Unterhaltung stockt noch immer. »Der Krieg!« sagt irgend wer von den Mitreisenden. »Ja, der hat die Menschen und uns alle sauber her'gricht!« sagt bitter die eine der Frauen, die mir gegenüber sitzen. Und dann beginnt sie zu erzählen, wie elend es ihr während des Krieges gegangen ist, wie sie und alle ihr bekannten Frauen Stück für Stück von ihrem Hausrat verkaufen mußten, um nur das nackte Leben zu fristen, und wenigstens Brot für sich und für die Kinder beschaffen zu können, indes der Mann eingerückt war. Zweimal war er verwundet worden, aber er ist Gott sei Dank noch gut weggekommen und kann noch arbeiten. Viel schlimmer sei es aber vielen anderen ergangen. So auch ihrer Freundin. »Ihr Mann war so ein braver, seelensguter Mensch,« erzählte sie, »und trotzdem ist er als Krüppel zurückgekommen aus dem Kriege. Mein Lebtag vergeß ich das nicht, wie er wiedergekommen ist. Seine Frau und ich waren im Bahnhof ihm entgegengegangen und auch der kleine Bub, der damals noch nicht fünf Jahre alt war. Er konnte es nicht mehr erwarten, bis er den Vater wiedersieht und ob er ihm wieder was Schönes mitbringen wird, wie damals, als er auf Urlaub da war. Und wie dann der Zug da war, sind viele Heimkehrer mit ihm gekommen, die von ihren Familien erwartet wurden. Die Kinder sind ihrem Vater entgegengerannt und jeder hat seine Kinder genommen, hat sie in die Höh' gehoben und hat sie abgeküßt ... Und der Kleine von meiner Freundin hat g'schaut, und wie er seinen Vater sieht, rennt er auf ihn zu und schreit: 'Vater, Vater nimm mich!' und klammert sich an seine Beine. Dem aber ist das Wasser nur so aus den Augen geschossen, und er hat sich zu dem Buben hinuntergebeugt, weil er beide Arme weg hatte. Und der Bub hat sich an den Hals von seinem Vater gehängt und hat geweint und wir alle auch. Ich sag' Ihnen, das werd' ich nicht vergessen, so lange ich leb'!«
Mit Tränen in den Augen schloß die Frau ihre Erzählung. Bald darauf hielt der Zug. Ich war am Ziele und mußte aussteigen. Aber noch immer klingt mir ihre Erzählung in den Ohren, und ich höre ihre letzten Worte: »Nicht vergessen, so lange ich leb'!« Heinrich Holek.

(Die Fackel Nr. 657-667, S. 10ff. [1924])

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