"Was wir umbringen" (2)

[Eigentlich wollte ich ja mal wieder bloggen. Nur dass ich seit dem 15. Mai eigentlich an einer Magisterarbeit über den an dieser Stelle bereits kurz angepriesenen Karl Kraus schreibe sitze und nicht immer die Zeit dazu habe. Weil Kraus aber sogar unter Studenten der Kommunikationswissenschaft erschreckend unbekannt ist mache ich aus der Zeitnot einfach eine Tugend und poste hier einige seiner kürzeren Texte - immerhin ist er so etwas wie der erste Blogger überhaupt. Die Herstellung aktueller Bezüge sei dem geneigten Leser überlassen.]

Das Problem der christlichsozialen Presse

ist die Unmöglichkeit der Unterscheidung, ob sie ein ungewöhnliches Raffinement aufwendet, um das Dümmste, das jeweils zu einer Angelegenheit zu sagen ist, an den Leser heranzubringen, oder ob sie ihre Dummheit als Lasso verwendet, um ihre Tücke wirksamer zu machen. Da hat die sozialdemokratische Presse die Ansicht vertreten, daß die Papstwahl das Gleichgiltigste von der Welt sei, daß dieses Ereignis selbst die Frömmsten mit dem Gefühl der tiefsten Wurstigkeit erfülle und »die Neugier nicht mehr wecke, als in Paris jedes Jahr die Wahl der Faschingskönigin«. Das ist gewiß nicht zutreffend, da man sicher sein kann, daß die Wahl der Faschingskönigin in Paris eine weit lebendigere Erregung hervorruft als der Betrieb eines wenn auch noch so gigantischen Apparates, der den individuellen Reiz der Überraschung doch nur dem Eingeweihten vorbehält. Denn während auch dem Laien ein Spielraum der Entscheidung zwischen den Faschingsköniginnen bleibt, in dem sich sein Geschmack oder seine Phantasie betätigen können, ist es doch bekannt, daß alle Pfaffen wie Pfaffen aussehen (wenngleich sie gewiß besser als alle Journalisten aussehen), und die Gläubigkeit bleibt an das Ergebnis einer Auswahl der Werte, wie immer es in Wahrheit beschaffen sein mag, so sehr gebunden, daß zu den Funktionen des Apparats eben auch die Begeisterung für die Vorzüge des jeweils erkorenen Papstes gehört. Eine lebendigere Beziehung dürfte sich erst herausstellen, wenn einmal ein Papst lebendigeren Anteil an eben jenen Sorgen der Menschheit nehmen wollte, die vorläufig das Interesse für seine Wahl weit mehr in den Hintergrund treten lassen als es je der Fall war. Wenn etwa der neue Papst sich entschlösse, anstatt dem Erzbischof von Wien zu versichern, daß »das österreichische Volk ihn dauert«, diesem die lebendige Hand entgegenzustrecken und die tote zu opfern, nachdem der Vorgänger nicht einmal dazu zu bringen war, die Urheber des Unglücks, eine christliche Dynastie von Massenmördern, zu exkommunizieren. Oder wenn er es eines Tags unerträglich fände, der erste Christ einer Welt zu sein, in der dreiunddreißig Millionen Mitmenschen sich von Stroh, Baumrinde, Wandkalk und Menschenfleisch nähren, um dann doch Hungers zu sterben. Aber solchen Beweggrund würde die christliche Presse wohl nicht gelten lassen, und die Wiener Stimmen', jene schlechteste Musik, die je in Wien gemacht wurde, finden, daß die Arbeiter-Zeitung mit ihrer Behauptung, daß das größte Ereignis der Welt, nämlich die Papstwahl etwas Gleichgiltiges sei, sich nur blamiert habe. Und jetzt, wo der Papst gewählt ist, kann man ihr die Blamage unter die Nase reiben. Denn »nun ist das Präjudiz da, und die arme Arbeiter-Zeitung muß zur vollzogenen Papstwahl Gleichgiltigkeit mimen« und sie bringe die Meldung an unscheinbarer Stelle, unglossiert, aber »in einer Aufmachung, die von allem möglichen, nur nicht von Gleichgiltigkeit zeugt«. Das ist nun so einer der Fälle, wo man vor das Problem der christlichsozialen Presse gestellt ist, wo aber vermutlich eher die Dummheit mit Raffinement arbeitet. Man kann sich nämlich die Blamage der Arbeiter-Zeitung gar nicht lebhaft genug ausmalen. Sie hat behauptet, die Papstwahl sei gleichgiltig, sie hat sich aber damit entschieden zu weit vorgewagt, denn jetzt ist er doch gewählt worden und das hat sie davon. Sie möchte es am liebsten verschweigen, sie muß es aber wohl oder übel melden und aus der Art, wie sie die Meldung abtut, sieht man deutlich, wie wichtig sie ihr ist. Sie hat sich eben präjudiziert. Sie sagte, ehe er gewählt war, die Wahl sei ihr wurst, womit sie doch keineswegs gemeint haben kann, daß ihr auch das Ergebnis der Papstwahl wurst sei. Und nun ist er tatsächlich gewählt worden. Heute kann sie das also nicht mehr sagen und zurück kann sie auch nicht mehr, das einzige was sie noch kann, ist zerspringen. Das kommt davon, wenn man schon vor dem Resultat sagt, die Papstwahl sei wurst, anstatt sich mit dieser Bemerkung Zeit zu lassen, bis sie vorbei ist.

(Die Fackel, Nr. 588-594, S. 35f.[1922])

Hendrik (Gast) - 14. Jun, 17:37

gut!

Trefflich geschildert vom Karl! Ich begrüße Deinen Plan, seine Texte in zwangloser Folge hier zu bloggen!

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