Montag, 2. Juli 2007

"Was wir umbringen" (3)

[Vor gut 100 Jahren erfand Karl Kraus den später sogenannten "Grubenhund". Anlass war eine Flut dümmlicher Augenzeugenberichte über ein kleines Erdbeben in Wien.]

Das Erdbeben

[...] Wie soll das werden! Was wird geschehen, wenn eines Tages die Stöße so rasch aufeinanderfolgen, daß die Presse nicht mehr nachkommen kann? Es war eine fürchterliche Probe. Indeß, die Journalisten lassen sich in ihrer irdischen Sicherheit nicht bange machen. Sie werden ein bischen von den Sesseln gehoben, aber sonst fürchten sie nicht den Tod, hoffen auf Kondolenzen und denken nicht an Prügel, zu denen sich doch einmal ein paar handfeste Kulturfreunde aufraffen könnten. Darum habe ich eine andere Methode versucht. Auch eine, deren Möglichkeit ich schon einmal angedeutet habe. Daß die Zuschriften, die die 'Neue Freie Presse' bei irgendeinem Elementarereignis aus der Leopoldstadt empfängt, von mir verfaßt sein könnten, gab ich ihr zu bedenken. Ich habe sie ausdrücklich gewarnt. Aber der liebe Leichtsinn will nicht hören, sitzt gemütlich beim Erdbeben, verzeichnet einlaufende Briefe und glaubt, daß das so schön glatt weiter gehen wird. Da nahm auch ich Papier und Tinte, und schrieb den folgenden Brief an die 'Neue Freie Presse':

»Ich las gerade Ihr hochgeschätztes Blatt, als ich ein Zittern in der Hand verspürte. Da mir diese Erscheinung von meinem langjährigen Aufenthalt in Bolivia, dem bekannten Erdbebenherd, nur zu vertraut war, eilte ich sogleich zu der Bussole, die ich seit jenen Tagen in meinem Hause habe. Meine Ahnung bestätigte sich, aber in einer Weise, die von meinen Beobachtungen seismischer Tatsachen in Bolivia durchaus abwich. Während ich nämlich sonst ein Abschwenken der Nadel nach Westsüdwest wahrnehmen konnte, war diesmal in unzweideutiger Weise eine Tendenz nach Südsüdost feststellbar. Allem Anscheine nach handelt es sich hier um ein sogenanntes tellurisches Erdbeben (im engeren Sinne), das von den kosmischen Erdbeben (im weiteren Sinne) wesentlich verschieden ist. Die Verschiedenheit äußert sich schon in der Variabilität der Eindrucksdichtigkeit. Bei dieser Art von Erdbeben kommt es vor, daß jemand, der im Nebenzimmer sich aufhält, nichts von all dem merkt, was sich uns unverkennbar offenbart. Meine Kinder, die um jene Zeit noch nicht eingeschlafen waren, hatten nicht das geringste gemerkt, während wieder meine Frau behauptet, drei Stöße gespürt zu haben. Hochachtungsvoll Zivilingenieur J. Berdach, Wien, II. Glockengasse 17.«

Ein Freund, der dabei saß und dem ich die Mitteilung, daß in Bolivia bestimmt nie ein Erdbeben stattgefunden hat, verdanke, meinte, das werde nicht erscheinen. Ich sagte: Das wird erscheinen! Die 'Neue Freie Presse' wird darüber erfreut sein, unter so vielen Laien endlich einen Fachmann zu Wort kommen zu lassen, der die Bussole bei der Hand hat, von einer Variabilität der Eindrucksdichtigkeit spricht und vor allem über die Einteilung in tellurische und kosmische Erdbeben Bescheid weiß. Mein Freund sagte: Aber das »Zittern der Hand« wird den Einsender verraten! Nein, sagte ich; wenn das Zittern der Hand der Redaktion auch als Begleiterscheinung eines Erdbebens verdächtig vorkommen sollte, so wird es ihr den Respekt des Lesers, der die 'Neue Freie Presse' zur Hand nimmt, bedeuten. In keinem Fall die Erbitterung des Lesers. Mein Freund sagte: Sie überschätzen die Dummheit der Leute. Ich sagte: Nein. Aber selbst wenn ich sie überschätze, die Zuschrift ist aus der Glockengasse, und darüber kommt kein Mann der 'Neuen Freien Presse' hinweg ... Und die Zuschrift erschien. »Herr Zivilingenieur J. Berdach schreibt uns aus der Glockengasse.« Am 22. Februar 1908 ... Ich hatte die 'Neue Freie Presse' ausdrücklich gewarnt. Meine Schuld ist es nicht, daß sie jetzt eine Zuschrift von mir abgedruckt hat. Aber wenn das Unglück auch geschehen ist, so kann man ihr doch nicht vorwerfen, daß sie den Brief gedankenlos zum Druck befördert hat. Sie hat ihn sogar redigiert. Sie hat aus den Stößen, die meine Frau gespürt hat, »Erschütterungen« gemacht, weil man eben in so ernster Sache jede Zweideutigkeit vermeiden muß. Sie hat die »kosmischen Erdbeben«, die ihr als eine widerspruchsvolle Bezeichnung erschienen, in »kosmische Beben« verändert. Sie schweigt mich seit zehn Jahren tot; sie ignoriert mich als Satiriker und läßt mich nur als Geologen gelten ...

(Die Fackel Nr. 245, S. 21ff. [1908])

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